Charakterbildung zwischen Willensfreiheit und neuronaler Vernetzung
Charaktereigenschaften werden einerseits geerbt, andererseits im Verlauf des Lebens durch
verschiedene Umstände erworben. Vieles, vielleicht das Meiste, tun wir, weil wir schon jene
Art von Menschen sind, durch die wir uns aufgrund früherer Entscheidungen gemacht haben
und diese Entscheidungen sich zu Dispositionen ausformen, die unser weiteres Wollen und
Tun in bestimmte Richtungen lenken. Solche Handlungsdispositionen können als „Tugenden“
zum Guten und Richtigen lenken oder als „Laster“ eine Neigung zum Schlechten bewirken.
Tugenden potenzieren die Freiheit, weil sie vernunftkonform sind, Laster vermindern die
Freiheit, weil sie sich zur Vernunft dysfunktional verhalten.
Die Freiheit ist demnach nicht in der Ungebundenheit des Wollens hinsichtlich seiner
Motive zu suchen, sondern in der Fähigkeit der Vernunft, über ihre eigenen Motive zu
reflektieren. Die Vernunft ist also die „Wurzel der Freiheit“, weil sie reflektierend das Gute in
verschiedenen Hinsichten zu erfassen vermag.
Durch jede Entscheidung und Handlung, durch Umwelteinflüsse und Interaktion mit andern
Menschen verändern sich auch die neuronalen Vernetzungen im Gehirn ständig. Tugenden
und Laster besitzen also eine neuronale Basis im Gehirn.
Dass Tugenden vernunftpotenzierende Charakterprägungen, Laster aber das Gegenteil sind,
beruht darauf, dass Tugenden keine Routinen sind, sondern gerade dazu führen, „kreativ“ und
nicht stereotyp zu handeln. Das Verhalten kluger, tugendhafter Menschen ist viel weniger
voraussehbar als dasjenige lasterhafter Menschen, die mehr den Prägungen ihres Charakters
ausgeliefert sind. Es scheint, dass lasterhaftes und somit weniger durch Vernunft als durch
Emotionen allein gesteuertes Verhalten, neurobiologisch relativ gut erklärbar ist – bis hin
zu nachträglichen Rationalisierungen und Rechtfertigungen von Handlungen. Tugendhaftes
Handeln hingegen erscheint, da mehr vernunftbestimmt, weniger „neuronal erklärbar“ zu sein.
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10:00 - 10:45

Martin Rhonheimer
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